Autolyse vom Kopf auf die Füße gestellt

Verwirren statt überzeugen – Möglicherweise hat der selbsternannte Brotpapst seinen fachlich besten Ghostwriter ziehen lassen. Anders ist sein aktueller Newsletter nicht zu erklären.
Mir ist der Begriff sogenannter „Nullteige“ erstmals 2012 über den Weg gelaufen. Bernd Küppers (emeritiert), Akademie für das Deutsche Bäckerhandwerk, Weinheim, einer meiner besten Ausbilder, hielt nicht besonders viel von ihnen. Die Teige würden mit der Zeit grau und unansehnlich. Vorteile nannte er nicht. Ganz anders hingegen berichtet Raymond Calvel (1913-2005) über die Autolyse, das französische Pendant des Nullteigs. Insofern scheinen unterschiedliche Meinungen zumindest eine Berechtigung zu haben. Der News-Posts über die Autolyse aus dem Plötzblog (September 2025)  hat die zitierte Quellenangabe unvollständig und deshalb unkorrekt wiedergegeben. Gräbt man noch tiefer- eben dort, wo sich die zitierte Quelle bedient, bei Calvel, merkt man dass sich scheinbar niemand die Mühe gemacht hat, dieses große Werk zu verstehen. Weil mich gleich mehrere Kunden um fachliche Einordnung baten, gibt es hier diese Zeilen.

Calvel verwendete große Energie darauf, die französische Brotqualität zu ergründen und zu verbessern. Die Summe seiner Lebensarbeit hielt er im Buch „Le goût du pain“ fest. Für ihn ist ein zentraler Punkt seiner Arbeit die Teigoxidation. Teigoxidation in ungewolltem Ausmaß stört die Brotqualität und hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab. Die Autolyse ist dabei ein Punkt von vielen. In genau diesem fachlichen Zusammenhang ist sie einzuordnen.
Wenn man als Bäcker den Geschmackswert eines durchschnittlichen deutschen 550er Mehls hernimmt, kann man durchaus schließen, dass dieses Mehl geschmacklich nicht durch Teigoxidation gefährdet wird und deshalb auch nicht von einer Autolyse profitieren kann. Weil es eh nur über die Fermentation Aroma ins Brot einträgt.

Kurz zusammengefasst


Autolyse soll nach Calvel das Risiko der Teigoxidation vermindern. Die Knetzeit wird dadurch drastisch reduziert und insbesondere in Intensivknetern wie dem Thermomix lassen sich erst auf diese Weise Teige herstellen. Auch besonders kleberstarke Mehle profitieren von der Autolyse, weil die hohe Kleberdichte längere Verquellungsprozesse (Anlagerung von Wasser an Kleber- und Stärkestrukturen) erfordert.

Extrakt aus Calvels Buch „Le goût du pain“

Der zentrale Begriff der „Teigoxidation“ ist entscheidend für die Qualität und den Geschmack von Brot. Professor Calvel betont, dass übermäßige Oxidation zu einer erheblichen Minderung der geschmacklichen Eigenschaften führt.
Im Folgenden werden Einflussfaktoren und Vermeidungsstrategien aus dem Buch dargestellt:

Einflussfaktoren der Teigoxidation und deren negative Folgen

1

Knetdauer und
-intensität

Intensives Kneten führt zu einer erhöhten mechanischen Energie, was die Oxidation des Teiges stark beschleunigt. Dies geschieht durch die Bildung ausgedehnter Teigoberflächen, eine stärkere Sauerstoffeinlagerung ist die Folge. Exzessives Kneten ruiniert den authentischen Geschmack, da es die Carotinoidpigmente zerstört und zu einem Ausbleichen der Krume führt.

2

Verwendung von Ackerbohnen-/Sojamehl

Die Zugabe von Ackerbohnenmehl (bis zu 2,0 % maximal zulässiger Gehalt in Frankreich) oder Sojamehl (0,2 % bis 0,3 %) lässt die Lipoxygenase wirken. Dies hat eine extrem schädliche Wirkung auf die Geschmacksentwicklung, insbesondere bei intensivem Kneten. Es kann zu einem Beigeschmack von Hexanol und Ranzigkeit führen. Die nahezu vollständige Zerstörung der Carotinoidpigmente resultiert in einem Verlust des authentischen Brotgeschmacks.

3

Verzögerte Salzzugabe

Salz wirkt als Antioxidans und stabilisiert die Eigenschaften des Teiges. Die Praxis, Salz erst gegen Ende des intensiven Knetens hinzuzufügen, wurde eingeführt, um ein maximales Maß an Oxidation und damit Bleichung zu fördern. Diese Praxis wird als „Auswaschen“ des Teiges bezeichnet und führt zu einem Geschmacksverlust.

4

Erhöhter Kontakt mit Sauerstoff

Wenn der Teig während des Knetens übermäßig mit Luftsauerstoff in Kontakt kommt, wird die Oxidation verstärkt. Dies geschieht besonders mit Hilfe von Intensivknetern. Die zwangsläufige, künstliche Reifung des Teiges beeinträchtigt den Geschmack.

5

Hohe Teigtemperatur

Die Teigtemperatur beim Kneten hat einen wichtigen Einfluss auf die Oxidation. Teigoxidation und das Ausbleichen des Teiges werden bei höheren Teigtemperaturen, etwa ab 26 °C, stärker. Eine zu hohe Temperatur kann auch durch intensive Knetung entstehen.

6

Bildung von Iso-Säuren

Die Kombination von mehreren Faktoren: Ackerbohnenmehl plus intensives Kneten plus leichte Erhöhung des Hefeanteils im Teig kann die negativen Effekte von Isobuttersäure und Isovaleriansäure in der Krume um 50 % verstärken. Diese Iso-Säuren haben einen ausgeprägt unangenehmen Geruch und tragen zur Verfälschung des Aromas bei.

7

Verwendung von Benzoylperoxid und Kaliumbromat

Diese Oxidationsmittel werden in den USA zum Bleichen von Mehl verwendet. Sie zerstören die Carotinoidpigmente, die Professor Calvel als Geschmacksträger betrachtet und verändern die geschmacklichen Eigenschaften des Mehls tiefgreifend zum Schlechteren.

Strategien zur Vermeidung der Teigoxidation

1

Reduzierung der Knetzeit/Intensität

Um Oxidation zu vermeiden, muss die mechanische Arbeit am Teig stark reduziert werden. Professor Calvel empfiehlt die Methode des „verbesserten Knetens“ (Improved Mixing), die gerade ausreicht, um leichte, voluminöse Brote mit knuspriger Kruste zu erzielen, während die Oxidation minimiert wird. Hierbei kommt die Autolyse ins Spiel: Sie wird explizit als Teil des Verfahrens bei der Herstellung von traditionellem französischem Brot vorgeschlagen. Dabei wird der Teig im ersten Schritt autolysiert und nach der Pause mit den restlichen Zutaten auf schneller Stufe so kurz wie möglich, so lang wie nötig ausgeknetet. Bevorzugt wird es bei rustikalem Brot aus reinem Weizenmehl, Pain de Gruau und Croissants vorgeschlagen.

2

Verzicht auf Ackerbohnen-/Sojamehl

Die wichtigste Maßnahme zur Verhinderung der Geschmacksverfälschung ist die Vermeidung von Ackerbohnenmehl (oder Sojamehl). Dadurch kommt die Quelle des schädlichen Lipoxygenase-Enzyms nicht in den Teig. Die Lipoxygenase ist verantwortlich für das Ausbleichen der Krume und die Entstehung von unangenehmen Iso-Säuren.

3

Ausreichende Hauptgärung

Die natürliche Reifung des Teiges sollte durch eine ausreichend lange primäre Fermentation erfolgen. Eine längere Gärzeit ermöglicht die Entwicklung wertvoller organischer Säuren, die Geschmack und Haltbarkeit verbessern.

4

Verwendung der Autolyse-Methode

Die Autolyse, eine Ruhezeit nach dem Vormischen von Mehl und Wasser, reduziert die gesamte Knetzeit (und somit die Oxidation) um mindestens 15 %. Sie verbessert die Dehnbarkeit des Teiges und erleichtert die Formgebung, was ebenfalls zur Qualität beiträgt.

5

Einsatz von Vorteigen

Die Zugabe eines fermentierten Teiges (Pâte Fermentée) oder eines Poolishs reichert den Teig mit organischen Säuren an und verbessert Geschmack und Haltbarkeit.

6

Kontrolle der Teigtemperatur

Um die Oxidation zu mäßigen, sollte die Wassertemperatur so eingestellt werden, dass die Teigtemperatur am Ende des Knetens kontrolliert und niedrig ist (idealerweise 22 °C bis 23 °C. Kalt gemischte Teige zeigen eine geringere Bleichwirkung.