Sauerteig Teil 4: Wahl der Sauerteigführung

Hier beschäftigen wir uns in erster Linie mit der großen deutschen Roggensauerteigkultur und den traditionellen deutschen Sauerteigführungen, die alle ohne zusätzliche Hefe funktionieren.

I. Kontext: Sauerteige der Welt und die deutsche Kultur

Bevor der Fokus auf die traditionellen deutschen Methoden gelegt wird, sollen die großen Sauerteigkulturen weltweit zumindest Erwähnung finden:

  • Masa Madre (Spanien)
  • Levain liquide/dur (Frankreich), bis zu 0,2 % Hefe erlaubt
  • Lievito Madre (Italien)
  • Kochsauerteig aus dem Baltischen
  • Balkansauerteig, ähnlich auch im Südwesten Frankreichs zu finden

 

II. Traditionelle deutsche Sauerteigführungen

Deutsche Sauerteigführungen unterscheiden sich hauptsächlich durch die Anzahl der Stufen, die gewählten Führungstemperaturen (TT), die Reifezeit (RZ) und die Teigausbeute (TA). Gemeinsames Merkmal ist die Roggensauerkultur.

Die zwei wichtigsten Ziele lauten:

  1. die Prozesse hinter der Säureentwicklung zu verstehen, um auf zu viel oder zu wenig Säure reagieren zu können
  2. die Triebstärke beeinflussen zu lernen

 

Die folgende Gliederung ordnet die Führungen nach ihrer Stufenzahl, was für Anfänger die Komplexität gut abbildet.

A. Einstufige Führungen

1. Detmolder 1-Stufen-Sauer

Diese Führung zeichnet sich durch das höchste Versäuerungsvermögen und die größte Verarbeitungstoleranz aus.

  • Merkmale: pH-Wert und Säuregrad dieser Sauerteige/Brote sind am stärksten ausgeprägt.
  • Versäuerungsgrad: 20 – 50 %, je nachdem, wie hoch der Anteil dunkler Mehle oder Schrot ist und welche Fermentationszeiten angestrebt werden.
  • Wahl der TA: Am weitesten verbreitet ist die TA 200 in Kombination mit einem 1150er Roggenmehl – sowohl im Bäckerhandwerk als auch bei den Hobbybäckern. Will man in dieser Kombi Aromaentwicklung und Triebstärke voll ausnutzen, muss man seinen Sauerteig bereits gut kennen und den Moment maximaler Triebkraft nutzen zu wissen, um den Teig in die nächste Stufe zu bringen. Bei bongu wird hauptsächlich mit dem 1370er Joseph und frisch gemahlenem Champagnerroggenvollkornmehl bei einer TA von 173 gearbeitet. Die Kultur ist gutmütiger (hat eine hohe Verarbeitungstoleranz), vollmundiger und ausgesprochen mild. Die längeren Stehzeiten und der Vollkornanteil bringen eine Komplexität hervor, die man sonst nur selten findet. Hier gehen wir 1:1 mit dem deutschen Bäcker, der international die höchste Anerkennung erfährt: Michael Schulze aus Freiburg.
  • Eignung: Besonders für säuretolerante Mehle/Schrote und dunkle Brote geeignet, also solche mit hohem Mineralstoffgehalt und für Konsumenten, die charakterstarke Brote schätzen.
  • Hinweis: Die Lehrmeinung besagt, dass die Triebkraft einstufiger Führungen ohne Bäckerhefe oft nicht ausreicht, um Broten ein ansprechendes Volumen zu geben. Der Erfolg hängt jedoch stark von der Qualität der Kultur und dem Umgang mit dem Starter ab. Meiner Meinung nach ist ein auf diese Weise getriebenes Brot wunderbar aromatisch, hält lange frisch und macht die minimal geringere Triebstärke durch ihre Vorteile mehr als wett.
  • Beispiele:
    – Waldstaude von Alexandra
    – Paderborner, ohne dieses Brot läuft Schelli nicht rund
    – roggenlastige, dunkle Brote

2. Monheimer Salzsauer

Die ursprüngliche Idee hinter dieser Führung war, den Ansatz des Sauerteigs auf nur noch zweimal pro Woche zu reduzieren und auf diese Weise Arbeit zu sparen.

  • Besonderheit: Die Zugabe von 2 % Salz vermindert die Stoffwechselgeschwindigkeit, der Bäcker sagt dazu: „Der Sauerteig wird stabilisiert“.
  • Wichtiger Nebeneffekt: Essigsäureproduzenten werden durch das Salz gebremst.
  • Ergebnis: Einfach, sicher und ausgewogen im Geschmack.
  • Kennzahlen (Beispiele): ASG-Menge 20 % vom Roggensauerteigmehl, RZ: 15 Std., TT 32 °C fallend auf 22 °C, TA: 200, Versäuerung 30 – 40 % (Salz muss bei der Hauptteigbereitung reduziert werden).
    Die Kennzahlen sind aus einem Lehrbuch zitiert, ein gut gepflegter Sauerteig benötigt vielleicht die Hälfte der Reifezeit, auch kann man ohne Einschränkungen die Teigtemperatur fest auf 24 °C einstellen, um das Verfahren zu vereinfachen.
  • Beispiele: Es gibt Spezialisten, z. B. Heiko (alterbacksolist auf Insta), die sich tief in diese Führung eingearbeitet haben und exzellente Ergebnisse mit verschiedensten Rezepten erreichen. Es ist eine sehr einfache, universell passende Führung. Die wichtigste Voraussetzung ist eine potente, gepflegte Kultur. Damit erreicht man bei hervorragender Lockerung ein mild-harmonisches, tiefes Brotaroma. Deshalb eignet sie sich für nahezu jede Anwendung. Anders als die Lehrbücher es wiedergeben, vermag diese Führung sehr wohl Teige ohne Hefezugabe gut lockern. Wenn die Kultur entsprechend trainiert wird, kann sie als salzige (2 %) Kultur geführt werden.

3. Berliner Kurzsauer

Diese Führung ist in der deutschen Bäckerei eher ein Exot.

  • Merkmale: kurze, warme, weiche Führung, die viel Anstellgut (ASG) benötigt
  • Eignung: für mildes, helles Mischbrot
  • Nachteil: geringe Verarbeitungstoleranz, hohe ASG-Menge und wenig Aroma
  • Kennzahlen (Beispiele): ASG-Menge 20 % vom Roggensauerteigmehl, RZ: 4 Std., TT 35 °C, TA: 200
  • Beispiele: Weil die Fermentationsaromen bei dieser Führung nicht besonders ausgeprägt sind, ist das ein Weg, die Aromen des Mehls und/oder der weiteren Zutaten mehr in den Vordergrund zu bringen. T65 Label Rouge mit einer Prise (5 – 20 %) hellem Roggen und einem Stich Butter (5 %) oder eine Semola-Roggenmischung (70/30) werden zu echten Gassenhauern.

B. Mehrstufige Führungen

Mehrstufige Führungen bieten eine höhere Triebkraft, dazu muss man als Anwender in der Lage sein, den Zeitpunkt der höchsten Triebkraft abzupassen und den Sauerteig sofort in die nächste Stufe zu überführen.

1. Detmolder 2-Stufen-Sauer

Dies ist eine bewährte Praxis und ein guter, sicherer Allrounder für die allgemeine Sauerteigbäckerei. Der Detmolder 2-Stufen-Sauer funktioniert in nahezu allen Sauerteigbroten. Kennzeichen: milde, gut gelockerte Brote.

  • Besonderheit: Die erste Stufe kann lang gezogen werden.
  • Kennzahlen (Beispiele):
    – Stufe 1: Verhältnis (Starter:Mehl:Wasser) 1:12:6, TT: 25 °C, RZ: 15 –24 Std., TA ca. 150.
    – Stufe 2: Verhältnis 1:2:2, TT: 28 °C, RZ: 4Std., TA ca. 190.
  • Beispiele: Sehr universell einsetzbar. Dietmars Standard-Führung. Für milde Mischbrote, auch mit hohem Weizenanteil. Eine von Dietmar entwickelte Sonderform dieser Zwei-Stufen-Methode ist der Cuvee-Sauerteig. Hier wird in der zweiten Stufe das Roggenmehl durch Weizenmehl ersetzt. Die Triebkraft ist beeindruckend und auch das Aromaprofil verändert sich in Richtung Balkan-Sauer. Passt par excellence zu schwäbisch-bayrischen hellen Mischbroten wie Ausgehobenem, Dinkel-Roggen, Halbweißem und vielen anderen. Neben der Salz-Sauer-Führung die zweite eierlegende Wollmilchsau.

2. Detmolder 3-Stufen-Sauer (Der „Alte“)

Diese Methode gilt als die Königsdisziplin, hatte vor Jahren noch eine hohe Relevanz, als das Sauerteigwissen noch als Geheimwissen der Druiden und Schamanen weitergegeben wurde. Mit den heutigen Sauerteigqualitäten und ein wenig Backerfahrung fährt man mit einem 2-Stufen-Sauer schon sehr sicher. Auch das häufig hervorgehobene, besonders ausgewogene, harmonische Aromaprofil ist dem oben beschriebenen Salzsauer-Verfahren nicht überlegen. Angestrebte Teigversäuerung: 30 – 40 %.

  • Wirkung: Sie erzeugt milde, aromatische und triebstarke Sauerteige.
  • Qualitätssteuerung: Letzte Stufe zeitlich kurz halten: Die Brotqualität steigt, die Verarbeitungstoleranz sinkt.
  • Ablauf (Kennzahlen):
    – Stufe 1 (Anfrischsauer): RZ: 5 – 8 Std., TT 25 – 26 °C, TA: 200 – 220, Verhältnis ASG:Mehl:Wasser 1:2:3, Mehlmenge in der ersten Stufe: 1 % vom Sauerteigmehl
    – Stufe 2 (Grundsauer): RZ: 6 – 10 Std., TT 23 – 28 °C, TA: 150 – 165, Verhältnis ASG:Mehl:Wasser 1:5:3, fester Sauerteig!
    – Stufe 3 (Vollsauer): RZ: 3 – 10 Std., TT 25 – 32 °C, TA: 180 – 200, Verhältnis ASG:Mehl:Wasser 2:3:3, weicher Sauerteig
  • Beispiele: Wirklich relevant für Roggenbrötchen mit guter Lockerung, die hefefrei gebacken werden sollen. Sonst: alle 2-Stufen-Rezepte, Monheimer Salzsauer-Rezepte.


3. Schaum- oder Schlagsauer-Verfahren (5 Stufen)

Dieses Verfahren ist aufwändig und besteht aus fünf Stufen. Die Führung wird über alle Stufen weich und warm geführt, um Sauerstoff einarbeiten zu können und eine hohe Stoffwechselgeschwindigkeit zu erzielen.

  • Zentrales Ziel: Es ist die effektivste Methode, Säurebildung zu unterdrücken und gleichzeitig den Hefetrieb zu maximieren.
  • Methode: Den Hefekulturen wird Sauerstoff zur Verfügung gestellt, was neben einer guten Nährstoffversorgung für die Hefevermehrung essentiell ist. Dies stärkt die Hefen relativ zu den Bakterien und fördert den CO2-Austrieb, wodurch die Brotlockerung optimiert wird.
  • Beispiele: keine.

III. Zusammenfassung und Nutzen

Dieses Wissen dient als Baukasten für die eigene Rezeptentwicklung und ermöglicht das Verständnis der dahinter liegenden Prozesse. Durch die Fermentation entstandene, erdig-aromatische Brote finden zunehmend Eingang in die anspruchsvolle Küche. Es sind dadurch sehr individuelle Brotrezept-Entwicklungen möglich.


Durch die praktische Beschäftigung mit den Sauerteigen gelangt man nahezu automatisch zu kräftigeren, aromatischeren Sauerteigen und zwangsläufig zu besserem Brot. Diese neue Brotqualität hat in den letzten Jahren schon viele Lebensläufe verändert. Quereinsteiger sind zu Local Heroes erkoren worden.


Zitat Claus Meyer, Kopenhagen:
„Brot ist auch eine der demokratischsten Formen von Luxus: Fast jeder kann sich 500 Gramm Mehl leisten.“